Das Vermächtnis der Götter – Leseprobe

Noch während stürmender Regen gegen das Tal preschte, lichtete sich das Unwetter zwischen den hohen Graten des Gebirges und ließ sich einzig die heftigen Winde an den Felsen brechen. Das Wasser rann in großen Mengen und Sturzbächen gleich an den Felsen entlang und schliff den zerklüfteten Stein.

Im Schein der im Wind tänzelnden Laternen, standen drei Bergmänner geschützt am Zugang ihres Stollens und blickten mürrisch in das Unwetter hinaus. Der älteste von ihnen sah zu seinem Lehrling und dem Stollenarbeiter herüber, dessen grobes vernarbtes Gesicht ihn immer wieder an einen alten, mürrischen Kläffer erinnerte, den er einmal in der Stadt gesehen hatte. Der Spatz im kleinen Käfig, den sein Lehrling Brian in der Hand hielt, hüpfte aufgeregt hin und her. Wasser preschte über ihre Stiefel und hinab in den Stollen, den sie hatten räumen müssen. Die anderen Arbeiter waren bereits vor dem Unwetter gewichen und den schmalen Bergpfad zurück ins Dorf geeilt, doch eine Schlammlawine hatte den drei Pechvögeln das Weiterkommen unmöglich gemacht. Jetzt saßen sie hier fest. Tiefer in den Stollen gingen sie nicht, aus Angst, er könnte zuschütten und sie unter dem Berg lebendig begraben. Einen anderen Weg aus der Steilwand konnten sie aufgrund des Unwetters nicht suchen.

„Vor Unwettern sollte der Kleine uns auch schützen“, witzelte Ulfgard, der kleine Mann mit dem Vollbart, doch weder sein Vorgesetzter, noch dessen Lehrling lachten. Sein gedrungenes Lächeln erstarb. Da polterten einige Steine den Hang hinab und lenkten die Aufmerksamkeit der Männer auf sich. Ein großer Stein schlug platschend auf dem Weg auf und wurde kurz darauf von den massiven Wassermassen hinfortgespült. Plötzlich durchdrang ein schriller Schrei die Nacht und vermischte sich mit den tosenden Geräuschen des Unwetters. Ängstlich sah der Junge von gerade einmal neun Lenzen seinen Lehrmeister an, der unbeeindruckt blieb und sich ein wenig aus der Kuhle beugte, die den Stolleneingang überdeckte. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Fluchend wich er zurück.

„Die Berge spielen uns einen Streich, Brian“, sagte er im beruhigenden Tonfall, doch Ulfgard erwiderte dies mit Aberglaube und sprach in ernster Stimme von den erzürnten Berggeistern. Da grellte ein Blitz auf und unweit vom Stolleneingang erblickten sie einen drahtigen Schatten. Erschrocken wichen sie zurück, doch im nächsten Moment war er verschwunden. Erneut polterten Steine den Hang über ihnen herab. Ein tiefes, gutturales Stöhnen hallte plötzlich aus dem Schacht hinter ihnen. Eine an der Wand lehnende Spitzhacke ergreifend, sprang Ulfgard herum und leuchtete mit der Lampe in der anderen Hand in die Dunkelheit hinab. Erneut polterten Steine herab und plötzlich stand hinter ihnen im Eingang des Stollens eine zur Schulter hin breiter werdende Gestalt. Schreiend stolperte der Lehrling zurück. Da hob die Gestalt eine dreifingrige dürre Hand empor, deren Fingernägel lang wie Messerklingen waren. Es war dennoch eine beruhigende Geste. Eine Schaufel in der Hand, hob Arnulf, der älteste der drei Menschen, die Lampe dem Fremden entgegen und während seinem Lehrling ein erschrockenes Quieken entfuhr, blieb er ruhig. Er hatte schon öfter einen fahrenden Händler der Echsenmenschen gesehen, die man hier Nju nannte.

„Datura im Frieden“, grüßte er höflich und gleichermaßen vorsichtig und die hochgewachsene Gestalt erwiderte den Gruß und kam einen Schritt näher in die schützende Einbuchtung des Stollens. Vielmehr glitt sie voran. Denn ab der Hüfte des Neuankömmlings wand sich ein straffer, muskulöser Schlangenkörper über den steinigen Boden. Der breite Schädel mit breitem hervortretendem Unterkiefer ruckte kurz nach links und rechts, wobei intelligente und goldfarbene Schlangenaugen neugierig zwischen den drei Männern hin und her blickten.

„Mich hat das Unwetter ebenso überrascht wie euch“, meinte der Nju schließlich mit dem markanten und unverkennbaren Akzent seiner Rasse und schlängelte sich noch ein Stück näher.

„Dieser Stollen ist unsere Rettung“, bekundete der Lehrling, als er die Ruhe seines Meisters wahrnahm.

„Nicht nur der eure“, erwiderte der Nju und zischelte leise, aber nicht bedrohlich. „Viel Wärme und Schutz kann er uns auf Dauer aber nicht bieten,“ erklärte Arnulf und deutete auf das Unwetter.

„Er ist genau das, was ich gesucht habe“, antwortete der Nju mysteriös. Der Arbeiter fuhr erschrocken herum und deutete erneut auf den Tunnel. „Da! Ich hab es schon wieder gehört! Da unten ist irgendwas!“ Der Ältere drehte sich vom Nju weg und blickte in die Dunkelheit. „Das musst du dir einbilden. Wir waren die Letzten und außer dem strömenden Wasser ist dort unten rein gar nichts.“ Etwas knarrte wie altes Leder. Als Arnulf sich umdrehte sah er den Nju lächeln. Sein schlangengleiches Gesicht wurde von dem spreizbaren Nackenschild eingerahmt, das sich bedrohlich ausbreitete. „Er trügt sich nicht. Dort unten ist etwas“, sagte der Nju und fuhr an einen breiten Ledergürtel, der bis dahin im Schatten verborgen gelegen hatte. Eine gezackte Klinge blitzte auf.

„Ist es gefährlich?“, japste der Junge aus Angst und wurde sich bewusst, dass er viel mehr Angst vor dem Nju verspürte, als vor den Geräuschen aus dem Stollen.

„Es gibt viele Gefahren hier im Nebelgebirge“, antwortete der Nju, schlängelte sich plötzlich blitzschnell an dem Jungen vorbei und auf den Tunnel zu. „Was macht Ihr da!?“, rief Arnulf und im nächsten Moment wurde er zu Boden gerissen. Die Schwanzspitze des Nju hatte sich um seinen Fuß gewickelt. Mit einem Krachen landete sein Schädel auf einem unebenen Stein und eine Blutlache breitete sich darunter aus. Ulfgard sprang hervor und schlug mit der Spitzhacke auf den Nju, der zischte und seine Klinge blitzschnell nach vorne schnellen ließ. Ein breiter Hieb schlitzte dem Mann den Bauch auf. Brian ließ den Vogelkäfig fallen und hastete zu seinem Meister. Der Nju preschte zurück, packte den Jungen und schleuderte ihn gegen die unebene Steinwand. Keuchend entfuhr ihm die Luft aus den Lungen. Da pfiff die Schaufel empor und hieb dem Nju in die Schnauze.

„Friss das du mörderische Bestie!“ Während sich der Nju vor Schmerzen wand, richtete sich der alte Mann auf und hieb erneut auf den sich windenden Torso seines Gegners ein. Der Junge eilte zu seinem Meister, nahm im Laufen die Spitzhacke des Ermordeten auf und wollte ebenfalls auf den Nju einschlagen, als dieser sich blitzschnell zu seiner bedrohlichen Größe aufrichtete, seinem Meister den gezackten Dolch in den Hals rammte und mit der freien Hand nach dem Jungen packte. Jetzt hörte auch der Junge die Geräusche aus den Tiefen des Stollen. Der Nju folgte seinem Blick mit einem zufriedenen Lächeln auf dem lippenlosen Mund.

„Wie ich sagte, es gibt viele Gefahren im Nebelgebirge. Aber keine Sorge“, er zerquetschte den Kehlkopf des Knirpses mit erbarmungsloser Ruhe und Gelassenheit, „ich tue alles, um diese Gefahren auszumerzen. Und deine Sorge soll dies nicht mehr sein.“

Der Nju ließ den leblosen Körper des Menschen achtlos zu Boden fallen, hob dann den Käfig, öffnete ihn, packte den panischen kleinen Vogel und verspeiste ihn mit einem gierigen, knirschenden Happen. Das Stöhnen und Knurren aus dem Stollen wurde lauter. Der Nju lächelte zufrieden. Er hatte endlich gefunden, wonach er sehr lange Zeit gesucht hatte …