Kinder des Schicksals – Leseprobe

Sie tanzte mit all den anderen Mädchen und Frauen um das große Daturas-Feuer zu der munteren folklorischen Musik, während die Männer sie eifrig anfeuerten und bejubelten. Die Menschen lachten, sangen, tranken und tanzten den halben Tag und die ganze Nacht. In Talon feierte man, so hatte sein Freund Honatius ihm damals erklärt, dreimal im Jahr das Daturas-Feuer, ein Fest zu Ehren des Feuerschmieds. Talon wurde viele Jahrzehnte zuvor von einer Feuersbrunst fast vollständig zerstört – wie Benedict jetzt glaubte, weil ein unrechtmäßiger Mann versucht hatte, das dort im verborgenen Schrein liegende Feuerschwert zu nehmen. Das Vermächtnis der Götter darf aber nur und ausschließlich von den wahren Erben der Götter, den Auserwählten in die Hände genommen werden, wie er jetzt wusste. Vermutlich hatte eine unachtsame Tat oder Gier für den Brand gesorgt. Das Dorf war neu errichtet worden und die gläubigen Bewohner hatten eine schlichte, aber schöne Kapelle zu Ehren Daturas errichtet. Sie stand auf einem Hügel, den sie mit einer Steinmauer mit einer Rinne für Öl umrundeten, die sie dreimal im Jahr anzündeten und so das Fest für Datura einläuteten. Vor dem Hügel hatte das tanzwütige Volk ein großes Lagerfeuer errichtet – denn was war eine Feier zu Ehren der Götter ohne ein großes Lagerfeuer, viel Gesang, Tanz und Feierei?

Viviane war Benedict zuerst gar nicht aufgefallen. Der junge Soldat hatte Augen für eine ganz andere Schönheit, ein lockiges Mädel namens Michelle, die ihm bereits mehrfach seit seiner Ankunft schöne Augen gemacht hatte. Sie war eine wilde Frohnatur und hatte sogar schon mit ihm gesprochen, wirkte trotz ihrer offenen und direkten Art aber gleichermaßen geheimnisvoll. Die Musik war laut und der Abend bereits fortgeschritten, als sein einziger Bekannter Honatius sich mit einem leicht glasigen Ausdruck und nicht mehr ganz so ruhigen Beinen verabschiedete und ihm einen schönen Abend wünschte.

„Du willst mich hier doch nicht allein lassen?“, rief Ben ihm noch hinterher, doch der Trodainer grunzte munter und deutete auf den Weg vor sich.

„Offenkundig doch“, er hob die Hand zum Gruß und entfernte sich langsam – sehr langsam – aber sicher vom Platz. Benedict schmunzelte und bemerkte Michelle, die an ihm vorbei tänzelte, ganz offensichtlich langsam genug, dass sie ihm auffallen konnte. Er wollte ihr folgen, als er selbst völlig unerwartet stolperte und fiel. Sie lachte und wurde von ihren gackernden Freundinnen umrahmt, die gemeinsam mit ihr in Richtung Kapelle tanzten, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Kaum in der Stadt und schon ein hoffnungsloser Fall“, die Stimme über ihm war zynisch, aber warm und melodisch.

„Ich bin dir aber aufgefallen“, fasste er sich schnell und konterte mit seiner damals schelmischen Art, die schon so manches Herz auf seine Seite gezogen hatte – hin und wieder, ohne dass er davon gewusst hatte.

„Willst du jetzt den ganzen Abend Wortwitze machen?“, erwiderte die Stimme. Benedict drehte sich um und richtete sich mithilfe seiner Gesprächspartnerin auf.

„Wenn sie dir gefallen?“, witzelte er weiter und sah sich einer genervten Fremden entgegen, die ihre Augen bei seinem ungeschickten Anbandlungsversuch verrollte und ihn gelangweilt ansah. Das Schmunzeln auf ihren schmalen Lippen strafte ihre Genervtheit aber Lügen.

„Ich habe schon befürchtet, dass die Leute aus der Stadt nur Spaßvögel sind.“ Ihre Hand zuckte hoch und sie presste ihm sofort einen Finger auf die Lippen. „Wage dich – keine Wortwitze.“ Die unerwartete Berührung kam so plötzlich, dass er nicht einmal etwas erwiderte. „So wie du aussiehst, solltest du nicht zur Kapelle gehen.“

Er sah an sich herab und machte eine entschuldigende Geste: „Ach nein, wieso? Sollte ich die Hose etwa auszieh–“ der Finger presste sich erneut auf seine Lippen. „Ich korrigiere mich“, erwiderte sie mit einem unterschwelligen Tonfall, „du solltest am besten nirgendwo hin gehen.“ Benedict, auf nichts aus und ohne Hintergedanken, zuckte mit den Schultern. „Na gut, dann bleibe ich eben hier. Bei dir.“

Das Mädchen ihm gegenüber verrollte erneut ihre überraschend schönen grünen Augen. „Ein wahrer Scherzbold und Schürzenjäger.“

„Ich war noch nie Jagen“, erwiderte er erneut und tat so, als überlege er. „Vielleicht sollte ich–“

„Nicht versuchen, deine Schande zu überdecken, dass du gerade hingefallen bist, als du Michelle Genner hinterher laufen wolltest, wie all die anderen liebestollen Narren, die ihrem Charme erliegen. Kennst du sie überhaupt? Wusstest du ihren Namen? Wer ihre Familie ist? Dass sie einen Freund hat? Irgendwas, außer, dass sie hübsch ist und nicht in einen kleinen Ort wie diesen hier gehört?“ Sie schien keine Antwort zu erwarten und setzte erneut an, da aber hob Ben einen Finger auf ihre überraschend weichen und festen Lippen und antwortete rasch: „Kaum, ja, nein, nein, nein.“

Sie schnippte seine Finger von ihrem Mund und sah ihn herausfordernd an. Er erwiderte ihre Blicke und musterte das freche, schlagfertige Mädel. Sie trug ihre langen braunen Haare offen mit drei geflochtenen Strähnen, was ihm irgendwie gefiel. Ihre grünen Augen strahlten wie kleine Teiche auf ihrer zarten Haut, die von Sommersprossen gesprenkelt wurde. „Du hast mich erwischt“, gab er jetzt zu.

„Ich weiß“, damit lachte sie, drehte sich von ihm weg und tänzelte zum Feuer zurück, wo sie bereits ihre Freundinnen erwarteten. Ben bemerkte, dass diese kicherten und zu ihm herüber blickten und hob verlegen eine Hand zum Gruß. Noch in der Bewegung riss er sie selbst wieder herunter und lief los.

Vollidiot. Es hatte ihn keine fünf Schritte weit getragen, als er lächelnd innehielt und zum Lagerfeuer herüberblickte, wo die Frauen noch immer tanzten. Und das freche Mädel mit den grünen Augen. Etwas an diesem Gespräch hatte ihm gefallen, aber auf eine Art, die er nicht definieren, nicht greifen konnte – noch nicht. Sein Lächeln wurde breiter, als er sich umdrehte und näher zu den Tanzenden ging. Die Fremde verschwand gerade mit ihren Freundinnen hinter dem Feuer, also wartete er, bis der tanzende Kreis wieder bei ihm ankam. Die Mädchen hatten ihn entdeckt und scheinbar erwartet, denn sie schoben ihre Reihen auseinander, packten und nötigten ihn, mit zu tanzen. Die Männer außerhalb des Kreises lachten über den neuen nicht unbedingt begabten Tänzer, der zu allem Überfluss in einer Reihe von Frauen tanzen musste und nicht im Ring der Männer, die außerhalb und in entgegengesetzter Richtung tanzten. Um das Ganze für ihn noch schlimmer zu machen, wurde ein neues Lied angestimmt, das noch energischer war. Er hatte keine Chance, außer mit zu tanzen, auch wenn er die Schritte nicht kannte. Bisher bestand der Tanz aus einem gegenseitigen Griff ans Handgelenk und rhythmischen Sprüngen nach links oder auf Ansage in die Gegenrichtung. Als er sich gerade wohl fühlte und endlich ein Wort fassen wollte, teilte sich der Ring und jeder Tänzer machte einen Schritt auf den anderen Ring zu, drehte sich im Kreis und wechselte so nicht nur Richtung und Position sondern auch den Ring.

Benedict wusste nicht, wie er diesen Tanz überlebt hatte, doch am Ende saß er keuchend auf seinem Hosenboden und lachte von Herzen, wie er es in den ganzen letzten Monaten nicht mehr getan hatte.

Ein Becher mit Met tauchte in seinem Blickfeld auf. „Für einen Städter tanzt du ganz passabel.“ Er nahm ihn von der schlagfertigen Brünetten entgegen und lächelte, bot ihr unnötigerweise einen Platz neben sich an, während sie sich bereits setzte. „Ich schätze mal: Danke.“ Sie sahen einander an und stießen die Böden der Becher gegeneinander.

„Willkommen in Talon Fremder.“

„Ben. Benedict Tok“, er lächelte und deutete mit dem Becher zu ihr. „Viviane Auenberg, nicht? Du hast keinen Freund, deine Mutter mag meinen Tanzstil, du bist hübsch und wohin du gehörst, konnte keiner so richtig sagen.“ Sie zuckte zurück, schien überrascht, verwirrt und beeindruckt zugleich. „Ich muss mich bei dir entschuldigen“, begann er mit einem schelmischen Grinsen und erklärendem Unterton, „ich wusste wirklich nichts über Michelle Genner. Aber wir Städter“, dabei betonte er das letzte Wort so übertrieben abfällig, und imitierte dabei ein Klatschweib, „sind neugierige Wesen, wenn uns etwas interessiert.“ Er ließ eine Kunstpause, bevor er schelmisch ergänzte: „Vielleicht auch ein wenig stolz.“

„Du überraschst mich“, sie schmunzelte und sah sich um, so als suche sie das Fest nach einem bekannten Gesicht ab.

„Weißt du ich bin kein sonderlich guter Tänzer“, beteuerte Benedict, „aber ich unterhalte mich gerne und bin beharrlich. Und obwohl mir bei diesen Tänzen echt die Luft ausging, habe ich mich bei deinen Freunden schlau gemacht.“ Viviane lachte herzhaft und nahm einen langen Schluck um zu verbergen, wie beeindruckt und überrascht sie war. Sie würde es lange Zeit nicht zugeben, doch in diesem Moment war ihr klar, dass dieser Mann neben ihr nicht nur ein Sturkopf, sondern ihr Sturkopf werden würde.

„Du wärest erschrocken, wie redselig die Menschen bei einem solchen Fest sein können“, empörte er sich und lächelte ihr zu. „Du hast mich vorhin ganz schön kalt erwischt.“

„Ist das wieder ein Witz, weil wir den Feuergott anbeten und hier feiern?“ Benedict lächelte noch immer, etwas, das sie ein wenig verunsicherte. Dann stand er auf, nahm beide Becher und eilte zum Ausschank. Er ging diesen Weg noch mehrmals in dieser Nacht. Beim zweiten Daturas-Fest, das Benedict mitmachte, konnte er nicht nur mittanzen ohne sich zu blamieren, wie Vivianes Mutter zufrieden festgestellt hatte, sondern kannte auch mehr als nur ein paar Namen. Es wurde für ihn immer mehr ein Gefühl von Zuhause, etwas, das er aufgegeben und tief in seiner Brust weit hinter seinem Herzen verbannt hatte. Für Benedict hatte ein neues Leben angefangen und bereits bei ihrem dritten gemein-samen Fest machte er Viviane den Hof.