Erell keuchte.
Der junge Dieb hastete die enge Straße entlang und folgte seinen verängstigten Komplizen, die sich gegenseitig hastige Flüche zuriefen. Sie waren auf der Flucht. Und ihre Angst war durchaus begründet. Die Kreatur, vor der sie flohen, war ein dunkler Schatten. Schnell und unaufhaltsam. Eine Bestie auf zwei sowie vier Beinen, die agiler als ein Mensch sprintete und sich an Wänden festkrallte, wie eine haarige Spinne. Letzteres hatte Erell mit eigenen Augen gesehen. Die schwarze Gestalt war in einem gewaltigen Satz gegen eine Mauer gesprungen, hatte sich dort abgestützt und war blitzartig nach vorne geschnellt. Instinktiv hatte Erell die Flucht ergriffen. Schiere Panik durchfuhr seinen Körper. Er hatte seine präparierten Fluchtwege und die Möglichkeiten, sich geschickt vor Verfolgern außer Sicht zu bringen. Seine Bande hatte selbst Methoden entwickelt, um sich schnell an Hausfassaden mit einer Art provisorischem Flaschenzug nach oben zu ziehen. Doch diese Kreatur war ihnen selbst diesen Weg ohne Mühe gefolgt. Das Monster jagte sie unablässig.
Erells Hals brannte. Seine Kehle fühlte sich an, als bohrten sich eisige Stacheln pumpend bis zu seinen Lungen hinab, während er seine Beine ans Äußerste trieb. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so schnell gerannt zu sein.
Dämlicher Skip!
Sein Freund war schon immer fürchterlich waghalsig gewesen. Bei ihrer neuerlichen Suche nach geeigneten Opfern, die vermutlich nicht merkten, wenn ihnen der eine oder andere Beutel am Gürtel fehlte, hatten sie ein scheinbar unaufmerksames Zweiergespann erspäht und als Ziel auserkoren. Ein großer Fehler, wie Erell bei ihrem Anblick dachte. Skip hatte leichte Beute gewittert. Der zweite große Fehler, wie Erell nun wusste. Er sah immer zweimal hin, bevor er seine geschickten Finger in die unmittelbare Nähe seiner Beute brachte. Manchmal spürte man schon im Voraus, dass etwas schief gehen konnte. Verdammt! Hätte Erell doch nur mal besser auf seinen Bauch gehört. Dieser scheißdämliche Skip!
Hinter den vermeintlich unachtsamen Reisenden hatte sich mehr verborgen, als es auf den ersten Blick zu erkennen gab. Erell war kein intelligenter Junge, so viel wusste er. Sonst wäre er weder auf der Straße, noch bei der Diebesgilde – oder in so einer brenzligen Situation gelandet, wie dieser hier. Aber er war klug genug, um unaufmerksame Händler sowie Reisende von Söldnern und anderen Gefahren zu unterscheiden. Diese nahmen im Zweifelsfall das Recht in deren eigene Hand – in der sich dann beispielsweise ein Schwert befand.
Erell wagte es gar nicht erst, den Kopf zu drehen, um nach der drohenden Gefahr Ausschau zu halten, die ihn verfolgte. Vielmehr konnte er regelrecht spüren, wie dichtauf sein Verfolger ihm auf den Versen war. Nein. Etwas hatte sich schlagartig verändert. Seine Flucht endete jäh und unerwartet.
Etwas riss ihm die Füße mit voller Wucht vom Boden weg.
Erell japste, fiel und schlug frontal auf. Dabei schürfte er sich die Haut von Gesicht, Knien und Ellenbogen auf. Der junge Dieb jaulte auf und spürte das Blut aus seiner sich dumpf anfühlenden Nase triefen. Er erkannte erst beim zweiten hinschauen, dass er sich auf dem Pflasterstein soeben zwei Fingernägel abgebrochen hatte. Sie steckten noch in den Rillen im Dreck und zeugten mit ihrem frischen, roten Blut von ihrer Herkunft. Erst später hatte er verstanden, dass er mindestens drei Meter über den Boden geschlittert war. Doch noch ehe sich der junge Dieb aufrichten konnte, presste ihn ein unnachgiebiger Druck wieder nach unten und die Luft aus seinen Lungen.
Er keuchte und versuchte lautlos um Hilfe zu schreien. Eine barsche, tiefe Stimme unterband sein Vorhaben, gefolgt von einem tierischen Knurren, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Wenn du schreist, landest du in kleinen Stückchen vor der Stadtwache.“
Jetzt ist es aus, da war er sich ganz sicher. Erell spürte, dass der Druck auf ihm nachließ. Er drehte sich langsam auf den Rücken und starrte auf seinen Häscher. Er sah in das langgezogene Gesicht des muskulösen Pan-Thar, dem Skip den Beutel vom Gürtel gestohlen hatte. Dieser sah aus goldbraunen Augen zurück, doch es lag kein Zorn, sondern Überraschung in seinem Blick. Und ein wenig Besorgnis.
„Oh verdammt“, hörte er ihn murmeln. „Bist du sicher, dass du ihn nicht umbringen wolltest? Ich hätte ihn doch fast gehabt“, sagte der Tiermensch zu jemandem, den Erell nicht sehen konnte. Aber er spürte, dass hinter ihm noch eine weitere Person stand.
„Was denn? Ich weiß nicht, was du hast“, erwiderte eine junge Frau mit strenger Stimme. „Er lebt doch noch. Außerdem hatte ich keine Lust auf ein Katz und Maus Spiel mit so einem lästigen kleinen Gauner.“
Der Tiermensch lächelte grimmig und sah immer noch über Erell hinweg zu der Unbekannten: „Hey, ich hab diese Katzen-Referenzen langsam echt satt. Kannst du bitte aufhören, mich mit einer Katze zu vergleichen? Ich bin ein Pan-Thar.“
„Und? Solange du Flöhe hast, hörst du das von mir.“
„Götter. Das war einmal und ist schon ewig her!“
„Na und? Wir mussten unsere Schlafsäcke verbrennen!“
„War ja klar, dass du mir das wieder vorhältst“, erwiderte der Pan-Thar mürrisch. Erell – zutiefst verängstigt und jetzt auch in höchstem Maße verwirrt – spürte, dass er nichts spürte und besah sich erneut seiner Wunden. Er gab einen leisen Laut von sich. Zu mehr schaffte er es nicht. Doch damit hatte er die Aufmerksamkeit wieder auf sich gelenkt. Der Blick des Pan-Thar fiel auf den Jungen. Aus Güte wurde Besorgnis.
„Schau dir den armen Kerl mal an! Du hättest ihn fast umgebracht“, betonte dieser, doch die Frau schnaufte nur. Erell wurde plötzlich aufgehievt und stand schließlich überrascht auf schlotternden Beinen vor den zwei Fremden.
„Ich habe Schmerzen“, wisperte er. Seine Stimme war fast noch zittriger und schwächer als seine Beine. Der Schmerz war so allgegenwärtig, dass er gar nicht wahrnahm, wie ihm sein Blut aus der Nase quoll und über die aufgeplatzte Lippe lief. Benommen war vielleicht ein geeigneter Ausdruck für seinen Zustand. Doch Erell dachte eigentlich gerade gar nicht, sondern sah mit verwaschenem Blick den streitenden Fremden zu, die ihn hin und wieder in ihr Gespräch mit einbanden.
„Ach was. Das ist nichts, was nicht wieder verheilt“, erwiderte sie patzig.
„Sieh dir seine Finger an!“
Sie sah seine Finger an.
„Oh.“
Jetzt sah auch Erell seine Finger an und schluckte. Die abgebrochenen Nägel gehörten zu ebenso gebrochenen Knochen; Zeige- und Mittelfinger standen in sich verkrümmt in unterschiedliche Richtungen ab.
„Oh!“
Die Fremde machte Anstalten näher zu kommen, doch Erell versuchte zurückzuweichen und kippte dabei wie ein voller Sack nach hinten. Geschickt trat der Pan-Thar neben ihn und fing ihn im Sturz auf, bevor sein Hinterkopf auf das Pflaster schlug. „Tut uns leid, Kleiner“, sagte er beruhigend. Aber die Rothaarige starrte den Pan-Thar zornig an und zischte: „Tut es nicht! Er ist ein dreckiger kleiner Dieb, Jaleel!“
Der Pan-Thar zuckte mit den Schultern: „Schau dir den Knirps doch an. Dem geht’s wahrscheinlich sowieso schon ziemlich mies. Und jetzt hast du ihm auch noch fast alle Knochen gebrochen.“
„Zwei, höchstens drei“, erwiderte sie kühl. „Er atmet, er lebt. Also stell dich nicht so an“, raunte sie und musterte Erell mit ihren smaragdgrünen Augen.
„Wo ist der Beutel, Knirps?“
„Skip“, antwortete Erell kleinlaut und fragte sich im gleichen Moment, wieso er seinen Eid brach und den Namen eines Kameraden nannte. Aber die junge Frau machte ihm Angst. Echte, urinstinktive Angst. Mehr noch als der nachtschwarze Tiermensch, der aussah wie ein Panther. Und das sagte einiges über sie aus.
Auch wenn ihr eine natürliche, aber kantige Schönheit innewohnte, ging von ihr eine mörderische Kälte aus. Erell spürte eine regelrechte, unsichtbare Gefahr, die sie umgab. Und dennoch. Er fand sie auf ihre eigene Art schön. Mit breiten Wangenknochen, einer recht blassen Haut, leichten Sommersprossen und unverwechselbarem dunkelroten Haar. Sie erinnerte ihn an Inea, ein Mädchen, das er gerne nachts besucht hatte. Bis deren Vater eines Abends die Geräusche aus ihrem Zimmer gehört und Erell durchs Fenster in die Nacht gejagt hatte.
„Wo?“, blaffte die rothaarige Furie ihn zornig an. „Skip? Was soll das sein?“ Sie glaubte scheinbar, dass er damit einen Ort meinte. Erell zuckte zusammen. Inea war wenigstens nett gewesen.
„Ich glaube er meint seinen Namen, weil du ihn Knirps genannt hast“, mutmaßte der Pan-Thar.
„Mein Name“, antwortete Erell immer noch kleinlaut und bemüht, den Pan-Thar zu korrigieren, „ist Erell.“
„Ich dachte Skip?“, wetterte sie dagegen und der geschundene Dieb versuchte, sich zu sammeln.
„B-Bitte …“
„Nein, nein. Ich glaube, das ist sein Name“, beteuerte der Pan-Thar, den die Frau Jaleel genannt hatte.
„Meine Güte. Skip, Erell – was interessiert mich sein Name?“, blaffte die Rothaarige ihren Begleiter an und trat einen Schritt auf Erell zu. Nein. Ganz, ganz anders als Inea.
„Hör mal Junge, mich interessiert weder wie du heißt, noch was für eine scheiß Lebensgeschichte du für den Fall auf Lager hast, dass du mal geschnappt wirst. Ich will einfach nur wissen, wo verdammt noch mal der Beutel von meinem Freund hier ist.“
Der Pan-Thar brachte wenigstens eine gewisse Empathie für den eingeschüchterten und schwer verwunderten Dieb auf. Für Erell unverständlich, nachdem dieser ihn gejagt hatte, wie der Wolf das Lamm. Aber vermutlich sah er auch einfach mitleiderregend aus, blutüberströmt, mit gebrochenen Fingern und aufgeschürfter Haut.
„M-m-mein Freund heißt Skip. Er hatte ihn“, stotterte Erell und fürchtete, dass sie ihm noch mehr Knochen brechen würde, wenn er nicht endlich etwas sagte. Ein gefährliches Funkeln lag in den Augen der Frau, die jetzt gemäßigter schien: „Geht doch.“ Sie sah ihn auffordernd an: „Und wo finden wir deinen diebischen Freund?“
„Eigentlich …“, Erell merkte, dass er langsam wieder klarer Denken und Artikulieren konnte. „Eigentlich flüchten wir immer ins Versteck. Aber das liegt in die andere Richtung, in die“, er zögerte und starrte Jaleel an, „du uns getrieben hast.“
Der Pan-Thar prustete amüsiert: „Entschuldigung dafür. Aber es war begründet.“
Erell war nach wie vor kein allzu kluger Junge. Also nickte er und antwortete verständnisvoll: „Schon okay.“
Die beiden Fremden sahen einander vielsagend an und schienen sich stumm zu verstehen. „Du hast Glück“, sagte Jaleel schließlich, „meine Freundin Mira hier hat heute einen guten Tag.“
Erell dachte eingeschüchtert an seine schweren Verletzungen und biss sich unwillkürlich auf die Unterlippe, die daraufhin nur noch mehr blutete.
„Weil du so nett warst, und der langsamste deiner diebischen Bande, wirst du doch sicherlich die Güte haben, uns zu eurem Versteck zu führen. Ich bin mir sicher, dass ihr früher oder später dort einkehrt und eure Beute aussiebt.“
Erell wägte für den Augenblick seine Möglichkeiten ab. Die erste Option bestand darin, sich quer zu stellen und vermutlich als ehrenvoller Klumpen Knochenmatsch in dieser Gosse zu verenden, indem er seinen Eid nicht brach und schwieg. Wenn er ihnen jedoch das Geheimversteck der Bande anvertraute, galt dies ebenfalls wie sein Todesurteil. Die Diebesgilde zögerte meist nicht lang, um sich zu schützen.
Erell nickte knapp und willigte schließlich ein, ihnen zu helfen.
„Bist du eine Magierin?“, fragte er plötzlich und überraschte sich damit selbst.
„Ich bin stinksauer“, erwiderte Mira, „das bin ich!“